Können wir auf China verzichten?
Mehr als 30 Interessierte besuchten unsere Online-Veranstaltung mit Professor Anja-Désirée Senz von der Universität Heidelberg. 60 Minuten, die sich lohnten, denn ihr Vortrag war reich an aktuellen Informationen über das Reich der Mitte.
China ist der größte Handelspartner Deutschland - doch nicht unbedingt der wichtigste. Ein Satz, der aufhorchen ließ, auch angesichts der aktuellen Meldungen über China. So schwächele die Wirtschaft der Volksrepublik, zum einen durch Nachwirkungen der Pandemie, zum anderen aufgrund einer Überregulierung der Digital- und Privatwirtschaft. Auch sozial laufe es nicht rund: So niedrig wie aktuell sei die Geburtenrate noch nie gewesen und das Corona-Management habe in Teilen der Bevölkerung zu einer Vertrauenskrise geführt. Darüber hinaus sei die Jugendarbeitslosigkeit mit etwa 20 Prozent in 2022 außerordentlich hoch, was zu stillen Protesten wie 996 oder Tangping geführt habe.
Für Außenstehende schwer zu durchdringen sei, so die Auffassung von Professor Anja-Désirée Senz das politisch-administrative System. Hier bestehe ein komplexes Geflecht der innerchinesischen Akteure, auch wenn in den letzten Jahren eine Re-Zentralisierung zu beobachten sei. Grundsätzlich schwanke, erläuterte die Wissenschaftlerin, die politische Führung bereits seit Jahrzehnten wellenartig zwischen Öffnung und Pragmatismus einerseits und Verschlossenheit und Kontrolle andererseits. Seit 2015 seien mehr Verschlossenheit, mehr Zentralisierung und mehr Kontrolle zu beobachten.
Betrachte man das Verhältnis zwischen Deutschland und China, so sei zunächst eine enge Verflechtung auf wirtschaftlicher Ebene zu beobachten. Die Zusammenarbeit auf politischer Ebene sei nicht abgebrochen – nach wie vor fänden Regierungskonsultationen statt, in die sich inzwischen jedoch auch kritische Töne mischten. Zugleich wies Senz in ihrem Vortrag darauf hin, dass trotz dieser Entwicklung aktuell eine Reihe großer Konzerne viel in China investiere, was diese Unternehmen abhängiger mache.
Wichtige Kooperationsfelder sind für Senz die Bereiche Klimapolitik und Forschung. Hier gäbe es auch Gefahren von Abhängigkeiten, zum Beispiel bezüglich Ressourcen, digitaler Ökonomie und pharmazeutischer Produkte. Doch wie abhängig ist Deutschland und mit Deutschland auch die EU von China? Hier schlägt Senz vor, die Relevanz der gehandelten Produkte, alternative Bezugsquellen beziehungsweise Ersetzbarkeit sowie die unternehmerische und gesellschaftliche Verwundbarkeit im Blick zu behalten. Habe man diese drei Aspekte auf dem Schirm, sei die Abhängigkeit faktisch gar nicht so groß, zumal mit der China+1-Strategie auf Wirtschaftsebene nach Alternativen gesucht werde.
Können wir also auf China verzichten? Eine klare Antwort auf diese Frage konnte Senz angesichts der geschilderten komplexen Gemengelage nicht geben. Sie empfahl stattdessen, die Asymmetrien in den Beziehungen zu betrachten, um bei Bedarf gegensteuern zu können sowie die Informations- und Wissensstände zu verbessern. Auch die über China bestehenden Narrative seien zu überprüfen. So sei die geopolitische Wahrnehmung Chinas im regionalen Kontext eine andere als hierzulande. Für den globalen Süden wiederum sei China tatsächlich relevant, da die wirtschaftlichen Verflechtungen für diese Länder häufig zu einem Wirtschaftswachstum führten.
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